Rolf Höge

Es ist ein Spiel

 

Sie müssen wissen, ich schreibe nicht nur, ich male auch seit einiger Zeit. Ich male abstrakt und bewundere alle, die ihre Pinsel so einsetzen können als wollten sie Ausschnitte von Landschaften oder Wälder fotografisch abbilden. Wie hier auf den Bildern der Ausstellung in der Kunsthalle.  

„Und was stört dich dann hier?“, höre ich Jakobs Stimme in meinem Kopf, „Du wirkst bedrückt.“

Meine Vornamen lauten Rolf, Jakob und Richard.  Jakob und Richard waren meine Onkels, die Brüder meines Vaters. Sie sind schon lange verstorben, aber ich rede manchmal mit ihnen, oder sie mit mir.

„Das Grün erschlägt mich.“

„Ah, der Malkurs“, sagt Jakob wissend.

„Üben, üben, üben“, äfft Richard meine Kursleiterin nach. „Immer wieder die Farben mischen. Sehen Sie sich die alten Meister an.“

Seit sechs Monaten gehe ich zu ihr in den Kurs, um mir etwas mehr Grundlagen anzueignen.

Ich bin Rentner, habe keine Zeit fürs Üben, für das Mischen von Farbnuancen. Rentner sitzen entweder beim Arzt oder verbringen ihre Restlebenszeit damit, vergessene Träume verwirklichen zu wollen. Außerdem hasse ich Grün auf Leinwand. Nicht jedes Grün, aber dieses dunkle, fette, satte Grün.

Ich lasse meine Augen über die Wände des Ausstellungsraums schweifen: kleine und große, detailgetreue Landschaftsbilder verschiedener Künstler, pointierte Abstufungen, filigran gemalte Blätter in dichten Baumkronen, Maler als menschliche Fotoapparate, und alles darauf angelegt, dem Betrachter dieses Grün entgegen zu werfen. Selbst das großformatige „Birkenstück“ von Ralph Fleck abstrahiert einen grünen Wald, in dem drei Birken stehen.

„Und das hier wirkt auf mich wie ein Urwald“, ich zeige auf das Gemälde von Fleck, “ein Urwald mit Birken.“

„Lass mal die Kirche im Dorf“, klingt Richard zu mir. „Erst stören dich die detaillierten Landschaftsbilder, jetzt die abstrakten Birken.“

Auch Jakob meldet sich wieder.

„Also nochmals: was genau stört dich hier in diesem Raum?“

Ich stutze kurz, fühle in mich hinein.  

„Die Stimmung“, antworte ich, „dieses Grün in fetten, alten Stuckrahmen erdrückt mich. Ich höre nichts und spüre nichts.  Ich sehe lediglich diese Momentaufnahmen von Blättern und komme nicht in Kontakt zu den Malern.“

„Landsacape – Landschaften, heißt die Ausstellung“, sagt Richard.

„Ich hätte sie anders genannt: Einsamkeit.“

„Einsamkeit?“

„Ja, irgendwie langweilig.  Die Künstler schweigen, ich spüre sie nicht. Was empfinden sie in der Natur, wie säuselt der Wind, wie pocht freudig das Herz beim Geruch von frisch gemähtem Gras?“

„Jetzt wird er poetisch“, spottet Jakob.

Ich gehe erst gar nicht darauf ein.

„Lebendig geht anders, farbvoller. Ich sehe nur Grün“, murmele ich vor mich hin und schreite genervt die Wand entlang.

Gut, ich räume ja ein, eine Aversion gegen sattes Grün zu haben und seit vorgestern sowieso. „Da fehlen die Grundlagen“, hallt es noch in mir nach, „immer wieder die Farben mischen. Sie müssen üben, üben.“

Ernsthaft, für mich nimmt dieses gehäufte Grün auf Leinwand Bewegtheit aus einem Bild, friert Lebendigkeit ein und lässt mir als Betrachter nur die Wahl zwischen schön oder nicht schön, lässt mich werten anstatt fühlen.

Unvermittelt zieht es mich zu einem anderen Bild: Heinrich Bürkel malte 1839 die ‚Campagna mit Aquädukt‘.

„Seht mal her“, spreche ich zu meinen Onkeln. “Ein Schäfer mit seinen Schafen, daneben ein Esel, auf dem eine Frau sitzt. Sie hält ihr Kind in den Armen. Eine Szene vor einem Aquädukt in einer italienischen Landschaft, filigran, detailgetreu und lebendig. Bürkel übergibt mir eine Geschichte, und er überlässt mir die Entscheidung über Inhalt und Verlauf der Geschichte. Es ist allein meine Entscheidung, einzutauchen in die Szene, wann immer ich will und wie ich will. -  Wisst ihr, was ich meine? Dadurch entsteht bei jeder Betrachtung eine neue, vorher noch nie dagewesene Realität.“

 „Entscheidung ist ein gutes Stichwort“, höre ich Richard. “Oben sind Werke von Anselm Kiefer ausgestellt.  Er sagte in einem Interview, der eigentliche Schaffungsprozess seiner Werke sei gar nicht so schwierig. Schwierig sei, zu entscheiden, was man gestalten will. Alles andere läuft dann fast von alleine.“

„Dann lasst uns hochgehen“, sage ich.

Es kommt nicht oft vor, das Gefühl zu haben, ich betrete begeistert das Zimmer eines alten, durchgeknallten Freundes. Mit voller Wucht trifft mich der überdimensionale Willkommensgruß von Anselm Kiefer durch seine Werke.

Ich stehe vor dem riesengroßen Bild mit einem aus Blei modelliertem U-Boot inmitten einer weißgrauen Berglandschaft. ‚Noah‘, nennt Kiefer das Bild. Da braucht es kein Grün, keine Nachbildungen. Unterschiedliche Materialien wie Holz, Blei, Ölfarbe, Teer benutzt er, um sich erst einmal auszutoben. Wie ein Kind, dem man die große Freiheit lässt, spielen zu dürfen, voller Lust und Drang. Jedes Werk ist einladend und verkörpert für mich die Reduktion von Sachverhalten auf das Wesentliche.

Noah baute die Arche, um Menschen zu retten, denke ich. Wir bauen U-Boote, um uns zu vernichten.

„Ich glaube nicht, dass Anselm Kiefer eine so eindeutige Aussage machen wollte“, meldet sich Richard. „Im Gegenteil: für ihn scheint die Freude an der Herstellung wichtiger als das Ergebnis. Er lässt sich selbst in seinem Tun immer wieder überraschen, von dem was dabei geschieht.“

Ja, genau. Dieses lustvolle Beginnen, wie befreiend, einfach anzufangen und zuzulassen, was kommt, entlanghangeln an der Lust im Tun, ein Spiel voll Spaß und Kraft, ohne das Ergebnis vorweg zu nehmen oder vollendet zu präsentieren. Ich spüre diesen Impuls, mit den Händen ins Bild zu greifen, um mitzuspielen, weil ich mich so willkommen fühle, in diesem Spielzimmer.

Auf dem Heimweg treffe ich meine Entscheidung.

Mein Atelier ist ungefähr zwei auf drei Meter groß und nennt sich Küche. Die Küche ist als solche nicht immer zu erkennen und gelegentlich tausche ich auch den PVC Boden aus, weil Acrylfarbe nicht immer dortbleibt, wo ich sie haben will.

Ich stehe mit zwei großen Tuben vor dem Küchentisch und klatsche Farbe auf eine mittelgroße Leinwand. Die Farbe will ich später mit beiden Händen großflächig verteilen und daraus eine Form bilden.

„Aha, was ist das? Das hätte jetzt nicht sein müssen! Schau dich mal an!“

Jakob und Richard sind wieder da.

„Ich denke, du magst kein Grün?“, spottet Richard.

Ich schaue an mir herunter. Die Jeans kann ich wegwerfen. Die Hosenbeine von den Schenkeln bis zu den Knien sind voll mit grüner Farbe.

 

„Scheißegal!“, schnauze ich.“ Das ist ein Spiel! Und ein Ahornblatt ist nun einmal grün, auch wenn es einzeln und groß aus einem U-Boot wächst!“A